ifaa-Impulspapier Den Fachkräftemangel als Chance begreifen und nutzen

Den Fachkräftemangel als Chance begreifen und nutzen!

IMPULSPAPIER

Der Fach- bzw. Arbeits­kräfte­mangel ist eines der größten Probleme für Wirt­schaft und Gesell­schaft in Deutsch­land. Gegenüber 2020 geht das Erwerbs­personen­potenzial in Deutsch­land bis 2035 nach Berech­nungen des Institutes für Arbeits- und Berufs­forschung (IAB) – je nach Szenario – um 3 bis 7,2 Millionen Personen zurück [1]. Aber bereits heute sind – trotz schwacher Konjunktur – laut KfW-ifo-Fach­kräfte­barometer rund 35 % der Unter­nehmen aufgrund des aktuellen Fachkräfte­mangels in ihrer Geschäfts­tätigkeit behindert [2].

Zur Lösung dieses Problems fokus­sieren sich Politik und Unter­nehmen derzeit fast aus­schließlich auf die Angebots­seite: Bislang ungenutzte Kapazität von Teil­zeit­arbeitenden zu erschließen, die Lebens­arbeits­zeiten zu verlängern oder Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen sind einige der propagierten Ansätze, die das Arbeits­kräfte­angebot in Deutschland erweitern sollen. Mit einer Erhöhung der Arbeit­geber­attrak­tivität, monetären und nicht­monetären Anreizen bis hin zu Vermittlungs- und Antritts­prämien kämpfen Unter­nehmen um das (zu) knappe Angebot an Fach- und Arbeits­kräften. Ein ruinöser Wett­bewerb hat eingesetzt, der die Kosten für Fachkräfte stetig erhöht und den in der Regel die großen und finanz­starken Unter­nehmen oder Organi­sationen gewinnen werden.

In dieser Situation müssen wir unbedingt auch die Nach­frage­seite analysieren und Möglich­keiten suchen, den Personal­bedarf bei gleicher oder höherer Wirt­schafts­leistung zu reduzieren bzw. die Arbeits­produktivität zu erhöhen. Dafür können wir grund­sätzlich drei Lösungs­ansätze parallel verfolgen.

  1. Durch effiziente Arbeits- und Prozess­gestaltung mit Methoden des Industrial Engineering und der Lean Production lässt sich die Produktivität steigern und der Personal­bedarf für viele Aufgaben bei gleicher Leistung erheblich reduzieren. Die Ansätze sind seit Jahr­zehnten bekannt – ihre Potenziale jedoch in vielen Unter­nehmen bisher nur unvoll­ständig erschlossen.
  2. Eine intensivere Technik­nutzung (Technisierung) kann den Menschen bei körperlicher und mentaler Arbeit unter­stützen, von repetitiven Tätig­keiten entlasten oder aber auch dazu beitragen, Tätig­keiten vollständig zu automa­tisieren. Robotik und Digitali­sierung können so helfen, die Produktivität mit weniger Fachkräften aufrecht zu erhalten oder zu steigern.
  3. Bürokratie, gesetzliche Vorgaben und Berichts­pflichten binden erhebliche menschliche Arbeits­kapazität – nicht nur in den Unter­nehmen, auch in der Verwaltung, die ebenfalls vom Fach­kräfte­mangel betroffen ist. Büro­kratische Vorgaben und Berichts­pflichten müssen daher analysiert, effektiver und effizienter gestaltet und digitalisiert erfüllt werden.

Im Folgenden werden diese Ansätze beschrieben und über­schlägig ermittelt, in welchem Umfang sich fehlendes Personal dadurch ersetzen ließe bzw. vorhandenes Personal für andere Aufgaben „gewonnen“ werden könnte. Basis dafür sind verschiedene Studien und Umrech­nungen auf Basis des statistischen durch­schnit­tlichen Monatsverdienst von 4.479 € [3], der bei 13 Monats­gehältern einem Jahres­einkommen von etwa 60.000 € entspricht.

Das Ziel ist nicht, exakte Zahlen zu ermitteln, sondern bewusst zu machen, in welcher Größen­­ordnung mensch­liche Arbeits­kapazität unnötig gebunden ist bzw. „besser“ genutzt werden könnte. Damit möchten wir für einen wert­schätzenden Umgang mit der in Deutsch­land zunehmend knapper werdenden Ressource der mensch­lichen Arbeits­kraft sensibilisieren.

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1. Mit Arbeits- und Prozesseffizienz gegen den Fachkräftemangel

Das Beispiel Toyota zeigt deutlich, wie groß der Einfluss der Arbeits- und Prozess­gestaltung auf den Fach­kräfte­bedarf von Unter­nehmen ist. Toyota produzierte 1991 mit 70 000 Beschäftigten 4,5 Mio. Fahrzeuge, was einer Arbeits­produktivität von etwa 64 Fahrzeugen pro Kopf entspricht. Die Arbeits­produktivität von VW lag im gleichen Jahr bei etwa 13 Fahr­zeugen und bei General Motors bei etwa 9 Fahrzeugen pro Kopf, obwohl bei diesen ein höherer Digitali­sierungs- und Technisierungs­grad vorlag [4]. Durch eine effizientere Arbeits- und Prozess­gestaltung benötigt Toyota auch heute noch weniger Fachkräfte für die Erzeugung vergleichbarer Produkte als der Wettbewerb. Die Gründe für diese Unterschiede wurden von Wissen­schaftlern des MIT (Massachusetts Institute of Technology) an den Prinzipien und Methoden der Arbeits- und Prozess­gestaltung innerhalb des Toyota-Produktions­systems festgemacht, welche zusammen­fassend mit dem Begriff „Lean“ (schlank) bzw. „Lean Production“ charakterisiert wurden [4]. Die konsequente und kontinuierliche Beseitigung jeglicher Art der Verschwendung knapper Ressourcen (Arbeitskräfte, Fläche, Material, Betriebsmittel, Information, Energie) steht im Mittelpunkt dieser Prinzipien.

Seit den 1990er Jahren haben viele Unternehmen versucht, Toyota zu kopieren. Nur wenige konnten jedoch ein mit Toyota vergleichbares Produktivitäts­niveau erreichen. Ein Grund dafür könnte sein, dass in vielen Unternehmen bisher nicht die gleiche Einsicht in die Notwendig­keit und damit nicht die gleiche Konsequenz, Disziplin und Ausdauer bei der Umsetzung vorlagen wie bei Toyota. Das Toyota-Produktions­system wurde realisiert, weil es hierzu klare Ziele und Notwendig­keiten gab und die Notwendig­keit die Mutter aller Erfindungen ist [5].

Gemäß Taiichi Ohno, dem Begründer des Toyota-Produktions­systems, muss das Denken in der Industrie sehr realistisch sein. Unabhängig von Wachstum und Ressourcen­verfügbarkeit muss immer gefragt werden, wie sich die Produktivität bzw. Effizienz verbessern lässt. Effizienz bedeutet in einer modernen Industrie Kosten­senkung, welche das Ziel aller Hersteller sein muss. Die entscheidende Frage ist, ob der Preis des Produktes dem Wert entspricht, den es für den Käufer hat oder ob die Kosten einen „zu hohen“ Preis verursachen. Die Gesamt­kosten ergeben sich aus wert­schöpfenden und nicht wert­schöpfenden Anteilen. Ziel des Toyota-Produktions­system ist es, alle nicht wert­schöpfenden Anteile, die eine Verschwendung von Ressourcen darstellen, kontinuierlich zu minimieren [5].

Zur vollständigen Beseitigung von Verschwendung dürfen nicht mehr Arbeitskräfte als erforderlich eingesetzt werden. Das Management hat die Pflicht überflüssige Arbeitskräfte zu identifizieren und sie effektiv einzusetzen [5]. Dies kann auch durch Umbesetzung auf andere Stellen erfolgen. Beschäftigte und deren Vertretungen betrachten Projekte und Maßnahmen zur Effizienz­verbesserung in der Regel jedoch mit Skepsis oder Sorge. Sie fürchten um den eigenen Arbeitsplatz und diejenigen der Kollegen. Aktivitäten zur Produktivitäts­steigerung entfalten deshalb häufig nicht ihre volle Wirksamkeit. Der aktuelle Fachkräfte­mangel bietet die einmalige Chance, Hemmnisse zu überwinden und Produktivitäts­potentiale zu nutzen. Diese führen unter den neuen Umständen nicht zu Arbeits­platz­abbau, sondern können helfen, fehlende Fachkräfte zu ersetzen.

Kapazitätspotenzial:

In ihrer Studie „Wertschöpfungs­potentiale 4.0“ kommen das Institut für „Lernen und Innovation in Netzwerken“ der Hochschule Karlsruhe und das „Fraunhofer Institut für System- und Innovations­forschung“ zu der Einschätzung, dass infolge der geringen Umsetzung von Lean Production in den direkten Wertschöpfungs­bereichen der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes jährlich ein Wertschöpfungs­potenzial von 95 Mrd. € ungenutzt bleibt [6]. Würde dieses Potenzial vollständig erschlossen, entspräche es der Arbeits­kapazität von 1,58 Mio. menschlichen Arbeits­kräften. Die konsequente Anwendung von Lean-Prinzipien im gesamten Unternehmen, also auch in den adminis­trativen Bereichen, würde zusätzlich noch weitere erhebliche Potenziale eröffnen.

2. Mit Technisierung, Robotik und Digitalisierung gegen den Fachkräftemangel

Technologie kann den Menschen in seiner energetischen und informa­torischen Arbeit unterstützen. Angesichts des derzeitigen und in Zukunft zunehmenden Mangels an Arbeits­kraft bedarf es einer offenen Diskussion über die Unter­stützung oder Substitution menschlicher Arbeit durch geeignete Technik. Produk­tivitäts­steigerungen sowie Entlas­tungen des Menschen bei der Arbeit sind erforderlich, um die Wett­bewerbs­fähigkeit deutscher Unternehmen aufrecht­zuerhalten.

Industrierobotik

Schon seit Jahrzehnten werden körperlich stark belastende Tätig­keiten von Industrie­robotern übernommen und der Mensch in der Produktion entlastet. Einfache und routine­mäßige Tätigkeiten in der Montage können künftig verstärkt durch kollabo­rierende Leicht­bauroboter – sogenannte Cobots – unterstützt werden. In Abhängigkeit von den individuellen Voraus­setzungen eines Unternehmens, können Arbeitsplätze mit Robotern unter­schiedlich gestaltet werden. Neben der Voll­automa­tisierung und der Mensch-Roboter-Koexistenz bietet auch die arbeitsteilige Zusammen­arbeit von Mensch und Roboter in einem gemeinsamen Arbeits­raum Möglich­keiten der Produk­tivitäts­steigerung [7].

Kapazitätspotenzial:

Deutschland hatte im Jahr 2022 mit 415 Industrie­robotern pro 10 000 Beschäf­tigten die dritt­höchste Roboter­quote nach Südkorea und Singapur [8]. Würde Deutsch­land die Industrie­roboter­quote Südkoreas erreichen, die 2022 1 012 Industrie­roboter pro 10 000 Beschäf­tigten betrug, wären in den deutschen Unter­nehmen des verarbei­tenden Gewerbes mit ihren insgesamt 7,5 Mio. Arbeits­plätzen etwa 450 000 Industrie­roboter mehr im Einsatz. Jeder Industrie­roboter ersetzt aufgrund der höheren Arbeits­produktivität und längeren Betriebs­zeiten in Etwa zwei mensch­liche Beschäf­tigte [9]. Zusätz­liche Roboter könnten die Arbeit von 0,9 Mio. fehlenden Arbeits­kräften über­nehmen.

Robotic Process Automation

Während die Produktions­umgebung bereits in der Vergangenheit Unter­stützungs- und Automa­tisierungs­technologien zur Produk­tivitäts­steigerung erfolg­reich implementiert hat, bestehen in der Adminis­tration noch erhebliche Potenziale. Nach der konsequenten Anwendung der Methoden des Lean Manage­ments auf adminis­trative Prozesse können Automa­tisierungs­techno­logien auch hier zum Einsatz kommen. Robotic Process Automation (RPA) bietet die Möglich­keit, Menschen bei repetitiven Routine­tätig­keiten zu entlasten und so dem Fach­kräfte­mangel entgegen­zuwirken. Bei RPA übernehmen virtuelle Software­roboter Routine­aufgaben für den Menschen, insbe­sondere im adminis­trativen Bereich. Langwierige, fehler­anfällige Prozesse mit hoher Wieder­hol­rate und gleich­bleibendem Ablauf können von RPA weitgehend autonom durch­geführt werden. Beispiele sind das Erfassen von Rechnungen, Buchen von Trans­aktionen, Eintragen von Urlaubs­anträgen, Übertragen von Daten zwischen verschiedenen IT-Systemen, Vorschreiben von Verträgen etc.

Kapazitätspotenzial:

In einer globalen Studie [10] gaben befragte Unter­nehmen an, dass sie etwa 20 % der Tätigkeiten von Vollzeit­mitarbei­tenden mithilfe von RPA automa­tisieren konnten. Weil es sich bei den befragten Unter­nehmen um innovative Vorreiter handelt, ist davon auszu­gehen, dass dieses Potential überwiegend noch verfügbar ist. Etwa 36,9 % der sozial-versicherungs­pflichtigen Beschäf­tigten arbeiteten hierzulande 2021 im Büro [11]. Im Jahre 2023 betrug die Anzahl der sozial­versicherungs­pflichtigen Beschäftigten 34,709 Mio. [12], so dass insgesamt von etwa 12,8 Mio. Büro­beschäf­tigten auszugehen ist. Wäre die RPA-Nutzungs­intensität der befragten Unter­nehmen flächen­deckend in Deutsch­land realisiert, könnte RPA überschlägig die Arbeits­leistung von 2,56 Mio. fehlenden Büro­kräften ersetzen. Darüber hinaus existieren noch weitere Potenziale. So schätzten die Befragten in der Studie das gesamte Automa­tisierungs­potenzial adminis­trativer Tätig­keiten auf bis zu 52 %.

Generative Künstliche Intelligenz

Neben der regel­basierten Prozess­automati­sierung durch RPA kann auch die Künstliche Intelligenz (KI) menschliche Tätigkeiten unterstützen oder übernehmen. In Berufen und Tätigkeiten, die stark durch Wissens- und Sach­arbeit geprägt sind, kommen dabei meist große Sprach­modelle zum Einsatz, die auf der Verarbeitung von natürlicher Sprache basieren und u. a. kognitive Aufgaben wie die Transkription von Texten, die Analyse von Dokumenten, das Verfassen von Nachrichten oder die Recherche zusätzlicher Informationen unterstützen können. Diese KI-Technologie ist damit die Basis für eine Vielzahl an Systemen, die auf Dialoge mit mensch­lichen Nutzerinnen und Nutzern ausgelegt sind. KI-Systeme können so z. B. daten­basierte Entscheidungs­hilfen geben [13] oder standardisierbare Teilaufgaben übernehmen.

Kapazitätspotenzial:

In einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden die potenziellen Beschäftigungs­effekte durch eine konsequente Nutzung von Generativer KI und im Speziellen von GPTs (Generative Pre-trained Transformer) auf Aufgabenebene abgeschätzt [14]. Die Berufs­gruppe, die im höchsten Maße von einer möglichen Automatisierung durch GPTs betroffen ist, sind die Büroberufe. 24 % der Tätigkeiten wie Organisations-, Kommunikations- oder Daten­verwaltungs­aufgaben (z. B. Erledigung von Routine­korrespondenz, Verfassung einfacher Texte, Erstellung von Zusammen­fassungen, Erstellung von Recherchen etc.) können in sehr hohem Maße und 58 % in hohem Maße von einer GPT übernommen werden. Legt man lediglich zugrunde, dass die Tätigkeiten der aktuell rund 12,8 Mio. Bürobeschäftigten durch GPTs zu 24 % effektiv automatisiert würden, könnte künftig die Arbeit von 3,07 Mio. fehlenden Bürofach­kräften durch Generative KI abgedeckt werden. (Dieses Potential enthält vermutlich kleinere Schnitt­mengen mit dem RPA-Kapazitäts­potential.)

3. Mit Entbüro­kratisierung und Effizienz­steigerung in der Verwaltung gegen den Fach­kräftemangel

Die Befolgung eines Gesetzes verursacht stets einen sogenannten „Erfüllungs­aufwand“. Dieser umfasst den messbaren Zeit­aufwand und die Kosten, die durch die Erfüllung bundes­rechtlicher Vorschriften bei Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung entstehen. Eine Teilmenge des jährlichen Erfüllungsaufwandes sind die Bürokratie­kosten. Sie entstehen durch die Verpflichtung, Daten oder sonstige Informationen für Behörden oder Dritte zu beschaffen, verfügbar zu halten oder zu übermitteln [15].

In den Unternehmen der Wirtschaft ist menschliche Arbeits­kapazität zur Gesetzeserfüllung einerseits direkt gebunden und steht für andere Aufgaben nicht mehr zur Verfügung. Andererseits erfährt die Wirtschaft durch gesetzliche Regelungen indirekt zusätzliche Belastungen. Zur Bewältigung des wachsenden Aufwandes in den öffentlichen Verwaltungen werden zunehmend Fachkräfte gebunden, die der Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Zudem verzögern sich aufgrund des auch in der Verwaltung vorhandenen und wachsenden Personal­mangels Aufgaben, die für die Wirtschaft bedeutsam sind, bspw. die Erteilung von Genehmigungen.

Kapazitätspotenzial:

Nach der letzten ausgewerteten Daten­aktualisierung im Jahr 2018 betrugen die Bürokratie­kosten aus Informationspflichten für die Wirtschaft jährlich etwa 50 Milliarden Euro [16]. Laut Normen­kontrollrat betragen sie derzeit 65 Milliarden € je Jahr [17]. Durch diesen Aufwand ist die Arbeitskraft von etwa 1,1 Millionen Menschen gebunden. Im Folgenden wird dieses Potential jedoch nicht gesondert berück­sichtigt, sondern dem von RPA und generativer KI zugeordnet.

Entbüro­kratisierung und Effizienzsteigerung sind trotzdem wichtige Handlungs­felder gegen den Fachkräfte­mangel. Der gesamte Erfüllungs­aufwand eines Gesetzes kann ein Vielfaches der Bürokratie­kosten umfassen und in erheblichem Maße menschliche Arbeits­kapazität binden.

Trotz aller angekündigten Entbürokratisierungsinitiativen ist eine kurzfristige Verbesserung der Situation nicht zu erwarten. Ein erheblicher Teil der geltenden Gesetze stammt aus Legislativ­akten der EU. Seit 2015 sind 56 % der laufenden Belastungen für die Wirtschaft auf die Umsetzung von EU-Regelungen zurückzuführen. Die Folgekosten von EU-Richtlinien werden im Rahmen des nationalen Verfahrens zur Aufwands­ermittlung abgeschätzt. Aber Erkenntnisse, die sich aus der Abschätzung ergeben, können kaum noch in die Gestaltung der Gesetze einfließen. Zwar gibt es mit dem sogenannten „EU ex ante Verfahren“ ein Instrument, um unverhältnis­mäßige Belastungen aufgrund von EU-Regelungen auf nationaler Ebene zu erkennen und zu vermeiden, jedoch kann seit der Einführung im Jahre 2016 noch nicht festgestellt werden, inwiefern das Verfahren eine Wirkung zeigt [17]. Eine konsequente Ausrichtung der EU-Gesetzgebung auf Effektivität und Effizienz scheint unter diesen Umständen nicht gesichert. Hinzu kommt, dass der Aufwand für sofort wirksam werdende EU-Verordnungen nicht berücksichtigt wird.

Fazit

Je nachdem, welche Szenarien der Zuwanderung und der Erschließung bislang ungenutzter Arbeitskraft eintreten, wird das Angebot an Erwerbs­personen in Deutschland bis zum Jahr 2035 gegenüber 2020 um 3 bis 7,2 Mio. Menschen zurückgehen. Dieser Fachkräfte­mangel bietet Unternehmen und Organisationen – aber auch der öffentlichen Verwaltung – jedoch gleichzeitig die Chance, ein wirksames Produktivitäts­management zu etablieren, dessen Notwendigkeit für die nachhaltige Existenz­sicherung zunehmend von Management, Beschäftigten sowie Arbeitnehmervertretern akzeptiert wird. Durch 3 Lösungsansätze – Konsequentes Lean Management und Verschwendungsbeseitigung, Technisierung und Bürokratie­abbau – könnte fehlende menschliche Arbeits­kapazität in erheblichem Umfang abgedeckt werden.

Würde nur die Hälfte, der in diesem Beitrag grob geschätzten Potenziale erschlossen, entspräche dies der Arbeits­kapazität von etwa 4 Mio. Menschen. Mit diesem Potenzial lässt sich nicht sofort jede freie Stelle besetzen, aber es ist unbestreitbar eine große Chance. Je nach Szenario könnten wir den Fach­kräfte­rückgang damit vollständig oder zu erheblichen Teilen kompensieren.

Darüber hinaus existieren weitere Potentiale zur Reduzierung des Fach­kräfte­mangels, die nicht eindeutig einem der drei Ansätze zuzuordnen sind. Sie zu erschließen ist eine bislang vernach­lässigte gesellschaft­liche Aufgabe. Im Zeitraum von 2011 bis 2021 betrug die jährliche Quote der Schulabgänger ohne Haupt­schul­abschluss zwischen 5,7 und 6,9 %. Das entspricht jährlich etwa 50 000 Personen. Etwa 70 % davon beschreiten den Weg in den sogenannten „Übergangs­bereich“, der den Eintritt in eine abschluss­bezogene Ausbildung erleichtern soll. In welchem Umfang dies gelingt ist ungewiss. Diejenigen, die aus dem Übergangs­bereich heraus keine Ausbildungs­möglichkeit finden, gehören irgendwann zur Gruppe derer ohne abgeschlos­sene Berufs­ausbildung. In der Altersgruppe der Zwanzig- bis unter Fünfund­dreißig­jährigen waren dies 2021 nahezu 2,7 Mio. junge Menschen [18].
Sie sind nicht nur einem erhöhten Risiko für Arbeits­losigkeit bei geringerem Verdienst ausgesetzt, sondern auch ein vernach­lässigtes Fachkräfte­potenzial.

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Quellenverzeichnis

[1] Fuchs J, Söhnlein D, Weber B (2021) Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Demografische Entwicklung lässt das Arbeitskräfteangebot stark schrumpfen. (IAB-Kurzbericht 25/2021), Nürnberg. https://doku.iab.de/kurzber/2021/kb2021-25.pdf

[2] Fachkräftemangel von Branche zu Branche und regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, KfW-ifo-Fachkräftebarometer Juni 2024. https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-KfW-ifo-Fachkr%C3%A4ftebarometer/KfW-ifo-Fachkraeftebarometer_2024-06.pdf

[3] Statistisches Bundesamt, Verdienste nach Branchen und Berufen, Durchschnittliche Bruttomonatsverdienste, Zeitreihe. https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-Branche-Berufe/Tabellen/liste-bruttomonatsverdienste.html#134694

[4] Womack JP, Jones DT, Roos D (1992) Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie des Massachusetts Institute of Technology. 7. Aufl., Frankfurt

[5] Ohno T (1993) Das Toyota Produktionssystem, Campus Verlag, Frankfurt, New York

[6] Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft (Hrsg), ILIN Institut für Lernen und Innovation in Netzwerken (Hrsg), Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI (Hrsg), Kinkel S, Beiner S, Schäfer A, Heimberger H, Jäger A (oD) Wertschöpfungspotenziale 4.0 – Bewertung der ungenutzten Wertschöpfungspotenziale der baden-württembergischen und deutschen Industrie in Zeiten der Digitalisierung der Wertschöpfung. https://www.infpro.org/studie-wertschoepfungspotentiale-4-0

[7] ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft. ifaa-Lexikon: Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK). https://www.arbeitswissenschaft.net/angebote-produkte/ifaa-lexikon/mensch-roboter-kollaboration-mrk

[8] Müller C (2023) World Robotics 2023 – Industrial Robots, IFR Statistical Department, VDMA Services GmbH, Frankfurt am Main

[9] Dauth W, Findeisen S, Südekum J, Wößner N (2017) German Robots – The Impact of Industrial Robots on Workers. IAB-Discussion Paper 30/2017. IAB - Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg. http://doku.iab.de/discussionpapers/2017/dp3017.pdf

[10] Deloitte (2017) The robots are ready. Are you? - Untapped advantage in your digital workforce. https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/tr/Documents/technology/deloitte-robots-are-ready.pdf

[11] Hammermann A, Stettes O (2023) Büroarbeit im Wandel - Analyse der Arbeitsbedingungen von Bürobeschäftigten, IW-Report 62/2023. https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Report/PDF/2023/IW-Report_2023-B%C3%BCroarbeit-im-Wandel.pdf

[12] Statistisches Bundesamt Destatis. Eckzahlen zum Arbeitsmarkt, Deutschland für die Jahre 2013, 2022 und 2023. Stand 25. März 2024. https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/eckwerttabelle.html

[13] von Richthofen G, Köhne S, Send H (2023) KI in der Wissensarbeit. Handlungsfelder und Ansätze für eine beschäftigtenorientierte Gestaltung. Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft, Berlin. https://doi.org/10.5281/zenodo.7541307

[14] Gmyrek P, Berg J, Bescond D (2023) Generative AI and jobs: A global analysis of potential effects on job quantity and quality. ILO Working Paper 96. International Labour Organization, Genf. https://doi.org/10.54394/FHEM8239

[15] Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates, §2. https://www.gesetze-im-internet.de/nkrg/__2.html

[16] Statistisches Bundesamt Destatis (Hrsg) (2022) Projektbericht zur Datenaktualisierung des Belastungsbarometers, Wiesbaden 2022. https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Buerokratiekosten/Publikationen/Downloads-Buerokratiekosten/belastungsbarometer.pdf?__blob=publicationFile

[17] Nationaler Normenkontrollrat Bundesministerium der Justiz (Hrsg) (202) Jahresbericht 2023. Weniger, einfacher, digitaler. Bürokratie abbauen. Deutschland zukunftsfähig machen. https://www.normenkontrollrat.bund.de/Webs/NKR/DE/veroeffentlichungen/jahresberichte/jahresberichte_node.html

[18] Klemm K (2023) Jugendliche ohne Hauptschulabschluss. Demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung. Bertelsmann Stiftung (Hrsg), Gütersloh. https://doi.org/10.11586/2023005

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