Den Fachkräftemangel als Chance begreifen und nutzen!
IMPULSPAPIER
Frank Lennings, Olaf Eisele, Sebastian Terstegen, Christian Cost Reyes, Ralph Conrad
ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V., Fachbereich Unternehmensexzellenz
Der Fach- bzw. Arbeitskräftemangel ist eines der größten Probleme für Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland. Gegenüber 2020 geht das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2035 nach Berechnungen des Institutes für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) – je nach Szenario – um 3 bis 7,2 Millionen Personen zurück [1]. Aber bereits heute sind – trotz schwacher Konjunktur – laut KfW-ifo-Fachkräftebarometer rund 35 % der Unternehmen aufgrund des aktuellen Fachkräftemangels in ihrer Geschäftstätigkeit behindert [2].
Zur Lösung dieses Problems fokussieren sich Politik und Unternehmen derzeit fast ausschließlich auf die Angebotsseite: Bislang ungenutzte Kapazität von Teilzeitarbeitenden zu erschließen, die Lebensarbeitszeiten zu verlängern oder Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen sind einige der propagierten Ansätze, die das Arbeitskräfteangebot in Deutschland erweitern sollen. Mit einer Erhöhung der Arbeitgeberattraktivität, monetären und nichtmonetären Anreizen bis hin zu Vermittlungs- und Antrittsprämien kämpfen Unternehmen um das (zu) knappe Angebot an Fach- und Arbeitskräften. Ein ruinöser Wettbewerb hat eingesetzt, der die Kosten für Fachkräfte stetig erhöht und den in der Regel die großen und finanzstarken Unternehmen oder Organisationen gewinnen werden.
In dieser Situation müssen wir unbedingt auch die Nachfrageseite analysieren und Möglichkeiten suchen, den Personalbedarf bei gleicher oder höherer Wirtschaftsleistung zu reduzieren bzw. die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Dafür können wir grundsätzlich drei Lösungsansätze parallel verfolgen.
- Durch effiziente Arbeits- und Prozessgestaltung mit Methoden des Industrial Engineering und der Lean Production lässt sich die Produktivität steigern und der Personalbedarf für viele Aufgaben bei gleicher Leistung erheblich reduzieren. Die Ansätze sind seit Jahrzehnten bekannt – ihre Potenziale jedoch in vielen Unternehmen bisher nur unvollständig erschlossen.
- Eine intensivere Techniknutzung (Technisierung) kann den Menschen bei körperlicher und mentaler Arbeit unterstützen, von repetitiven Tätigkeiten entlasten oder aber auch dazu beitragen, Tätigkeiten vollständig zu automatisieren. Robotik und Digitalisierung können so helfen, die Produktivität mit weniger Fachkräften aufrecht zu erhalten oder zu steigern.
- Bürokratie, gesetzliche Vorgaben und Berichtspflichten binden erhebliche menschliche Arbeitskapazität – nicht nur in den Unternehmen, auch in der Verwaltung, die ebenfalls vom Fachkräftemangel betroffen ist. Bürokratische Vorgaben und Berichtspflichten müssen daher analysiert, effektiver und effizienter gestaltet und digitalisiert erfüllt werden.
Im Folgenden werden diese Ansätze beschrieben und überschlägig ermittelt, in welchem Umfang sich fehlendes Personal dadurch ersetzen ließe bzw. vorhandenes Personal für andere Aufgaben „gewonnen“ werden könnte. Basis dafür sind verschiedene Studien und Umrechnungen auf Basis des statistischen durchschnittlichen Monatsverdienst von 4.479 € [3], der bei 13 Monatsgehältern einem Jahreseinkommen von etwa 60.000 € entspricht.
Das Ziel ist nicht, exakte Zahlen zu ermitteln, sondern bewusst zu machen, in welcher Größenordnung menschliche Arbeitskapazität unnötig gebunden ist bzw. „besser“ genutzt werden könnte. Damit möchten wir für einen wertschätzenden Umgang mit der in Deutschland zunehmend knapper werdenden Ressource der menschlichen Arbeitskraft sensibilisieren.
1. Mit Arbeits- und Prozesseffizienz gegen den Fachkräftemangel
Das Beispiel Toyota zeigt deutlich, wie groß der Einfluss der Arbeits- und Prozessgestaltung auf den Fachkräftebedarf von Unternehmen ist. Toyota produzierte 1991 mit 70 000 Beschäftigten 4,5 Mio. Fahrzeuge, was einer Arbeitsproduktivität von etwa 64 Fahrzeugen pro Kopf entspricht. Die Arbeitsproduktivität von VW lag im gleichen Jahr bei etwa 13 Fahrzeugen und bei General Motors bei etwa 9 Fahrzeugen pro Kopf, obwohl bei diesen ein höherer Digitalisierungs- und Technisierungsgrad vorlag [4]. Durch eine effizientere Arbeits- und Prozessgestaltung benötigt Toyota auch heute noch weniger Fachkräfte für die Erzeugung vergleichbarer Produkte als der Wettbewerb. Die Gründe für diese Unterschiede wurden von Wissenschaftlern des MIT (Massachusetts Institute of Technology) an den Prinzipien und Methoden der Arbeits- und Prozessgestaltung innerhalb des Toyota-Produktionssystems festgemacht, welche zusammenfassend mit dem Begriff „Lean“ (schlank) bzw. „Lean Production“ charakterisiert wurden [4]. Die konsequente und kontinuierliche Beseitigung jeglicher Art der Verschwendung knapper Ressourcen (Arbeitskräfte, Fläche, Material, Betriebsmittel, Information, Energie) steht im Mittelpunkt dieser Prinzipien.
Seit den 1990er Jahren haben viele Unternehmen versucht, Toyota zu kopieren. Nur wenige konnten jedoch ein mit Toyota vergleichbares Produktivitätsniveau erreichen. Ein Grund dafür könnte sein, dass in vielen Unternehmen bisher nicht die gleiche Einsicht in die Notwendigkeit und damit nicht die gleiche Konsequenz, Disziplin und Ausdauer bei der Umsetzung vorlagen wie bei Toyota. Das Toyota-Produktionssystem wurde realisiert, weil es hierzu klare Ziele und Notwendigkeiten gab und die Notwendigkeit die Mutter aller Erfindungen ist [5].
Gemäß Taiichi Ohno, dem Begründer des Toyota-Produktionssystems, muss das Denken in der Industrie sehr realistisch sein. Unabhängig von Wachstum und Ressourcenverfügbarkeit muss immer gefragt werden, wie sich die Produktivität bzw. Effizienz verbessern lässt. Effizienz bedeutet in einer modernen Industrie Kostensenkung, welche das Ziel aller Hersteller sein muss. Die entscheidende Frage ist, ob der Preis des Produktes dem Wert entspricht, den es für den Käufer hat oder ob die Kosten einen „zu hohen“ Preis verursachen. Die Gesamtkosten ergeben sich aus wertschöpfenden und nicht wertschöpfenden Anteilen. Ziel des Toyota-Produktionssystem ist es, alle nicht wertschöpfenden Anteile, die eine Verschwendung von Ressourcen darstellen, kontinuierlich zu minimieren [5].
Zur vollständigen Beseitigung von Verschwendung dürfen nicht mehr Arbeitskräfte als erforderlich eingesetzt werden. Das Management hat die Pflicht überflüssige Arbeitskräfte zu identifizieren und sie effektiv einzusetzen [5]. Dies kann auch durch Umbesetzung auf andere Stellen erfolgen. Beschäftigte und deren Vertretungen betrachten Projekte und Maßnahmen zur Effizienzverbesserung in der Regel jedoch mit Skepsis oder Sorge. Sie fürchten um den eigenen Arbeitsplatz und diejenigen der Kollegen. Aktivitäten zur Produktivitätssteigerung entfalten deshalb häufig nicht ihre volle Wirksamkeit. Der aktuelle Fachkräftemangel bietet die einmalige Chance, Hemmnisse zu überwinden und Produktivitätspotentiale zu nutzen. Diese führen unter den neuen Umständen nicht zu Arbeitsplatzabbau, sondern können helfen, fehlende Fachkräfte zu ersetzen.
Kapazitätspotenzial:
In ihrer Studie „Wertschöpfungspotentiale 4.0“ kommen das Institut für „Lernen und Innovation in Netzwerken“ der Hochschule Karlsruhe und das „Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung“ zu der Einschätzung, dass infolge der geringen Umsetzung von Lean Production in den direkten Wertschöpfungsbereichen der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes jährlich ein Wertschöpfungspotenzial von 95 Mrd. € ungenutzt bleibt [6]. Würde dieses Potenzial vollständig erschlossen, entspräche es der Arbeitskapazität von 1,58 Mio. menschlichen Arbeitskräften. Die konsequente Anwendung von Lean-Prinzipien im gesamten Unternehmen, also auch in den administrativen Bereichen, würde zusätzlich noch weitere erhebliche Potenziale eröffnen.
2. Mit Technisierung, Robotik und Digitalisierung gegen den Fachkräftemangel
Technologie kann den Menschen in seiner energetischen und informatorischen Arbeit unterstützen. Angesichts des derzeitigen und in Zukunft zunehmenden Mangels an Arbeitskraft bedarf es einer offenen Diskussion über die Unterstützung oder Substitution menschlicher Arbeit durch geeignete Technik. Produktivitätssteigerungen sowie Entlastungen des Menschen bei der Arbeit sind erforderlich, um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen aufrechtzuerhalten.
Industrierobotik
Schon seit Jahrzehnten werden körperlich stark belastende Tätigkeiten von Industrierobotern übernommen und der Mensch in der Produktion entlastet. Einfache und routinemäßige Tätigkeiten in der Montage können künftig verstärkt durch kollaborierende Leichtbauroboter – sogenannte Cobots – unterstützt werden. In Abhängigkeit von den individuellen Voraussetzungen eines Unternehmens, können Arbeitsplätze mit Robotern unterschiedlich gestaltet werden. Neben der Vollautomatisierung und der Mensch-Roboter-Koexistenz bietet auch die arbeitsteilige Zusammenarbeit von Mensch und Roboter in einem gemeinsamen Arbeitsraum Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung [7].
Kapazitätspotenzial:
Deutschland hatte im Jahr 2022 mit 415 Industrierobotern pro 10 000 Beschäftigten die dritthöchste Roboterquote nach Südkorea und Singapur [8]. Würde Deutschland die Industrieroboterquote Südkoreas erreichen, die 2022 1 012 Industrieroboter pro 10 000 Beschäftigten betrug, wären in den deutschen Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes mit ihren insgesamt 7,5 Mio. Arbeitsplätzen etwa 450 000 Industrieroboter mehr im Einsatz. Jeder Industrieroboter ersetzt aufgrund der höheren Arbeitsproduktivität und längeren Betriebszeiten in Etwa zwei menschliche Beschäftigte [9]. Zusätzliche Roboter könnten die Arbeit von 0,9 Mio. fehlenden Arbeitskräften übernehmen.
Robotic Process Automation
Während die Produktionsumgebung bereits in der Vergangenheit Unterstützungs- und Automatisierungstechnologien zur Produktivitätssteigerung erfolgreich implementiert hat, bestehen in der Administration noch erhebliche Potenziale. Nach der konsequenten Anwendung der Methoden des Lean Managements auf administrative Prozesse können Automatisierungstechnologien auch hier zum Einsatz kommen. Robotic Process Automation (RPA) bietet die Möglichkeit, Menschen bei repetitiven Routinetätigkeiten zu entlasten und so dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Bei RPA übernehmen virtuelle Softwareroboter Routineaufgaben für den Menschen, insbesondere im administrativen Bereich. Langwierige, fehleranfällige Prozesse mit hoher Wiederholrate und gleichbleibendem Ablauf können von RPA weitgehend autonom durchgeführt werden. Beispiele sind das Erfassen von Rechnungen, Buchen von Transaktionen, Eintragen von Urlaubsanträgen, Übertragen von Daten zwischen verschiedenen IT-Systemen, Vorschreiben von Verträgen etc.
Kapazitätspotenzial:
In einer globalen Studie [10] gaben befragte Unternehmen an, dass sie etwa 20 % der Tätigkeiten von Vollzeitmitarbeitenden mithilfe von RPA automatisieren konnten. Weil es sich bei den befragten Unternehmen um innovative Vorreiter handelt, ist davon auszugehen, dass dieses Potential überwiegend noch verfügbar ist. Etwa 36,9 % der sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigten arbeiteten hierzulande 2021 im Büro [11]. Im Jahre 2023 betrug die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten 34,709 Mio. [12], so dass insgesamt von etwa 12,8 Mio. Bürobeschäftigten auszugehen ist. Wäre die RPA-Nutzungsintensität der befragten Unternehmen flächendeckend in Deutschland realisiert, könnte RPA überschlägig die Arbeitsleistung von 2,56 Mio. fehlenden Bürokräften ersetzen. Darüber hinaus existieren noch weitere Potenziale. So schätzten die Befragten in der Studie das gesamte Automatisierungspotenzial administrativer Tätigkeiten auf bis zu 52 %.
Generative Künstliche Intelligenz
Neben der regelbasierten Prozessautomatisierung durch RPA kann auch die Künstliche Intelligenz (KI) menschliche Tätigkeiten unterstützen oder übernehmen. In Berufen und Tätigkeiten, die stark durch Wissens- und Sacharbeit geprägt sind, kommen dabei meist große Sprachmodelle zum Einsatz, die auf der Verarbeitung von natürlicher Sprache basieren und u. a. kognitive Aufgaben wie die Transkription von Texten, die Analyse von Dokumenten, das Verfassen von Nachrichten oder die Recherche zusätzlicher Informationen unterstützen können. Diese KI-Technologie ist damit die Basis für eine Vielzahl an Systemen, die auf Dialoge mit menschlichen Nutzerinnen und Nutzern ausgelegt sind. KI-Systeme können so z. B. datenbasierte Entscheidungshilfen geben [13] oder standardisierbare Teilaufgaben übernehmen.
Kapazitätspotenzial:
In einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden die potenziellen Beschäftigungseffekte durch eine konsequente Nutzung von Generativer KI und im Speziellen von GPTs (Generative Pre-trained Transformer) auf Aufgabenebene abgeschätzt [14]. Die Berufsgruppe, die im höchsten Maße von einer möglichen Automatisierung durch GPTs betroffen ist, sind die Büroberufe. 24 % der Tätigkeiten wie Organisations-, Kommunikations- oder Datenverwaltungsaufgaben (z. B. Erledigung von Routinekorrespondenz, Verfassung einfacher Texte, Erstellung von Zusammenfassungen, Erstellung von Recherchen etc.) können in sehr hohem Maße und 58 % in hohem Maße von einer GPT übernommen werden. Legt man lediglich zugrunde, dass die Tätigkeiten der aktuell rund 12,8 Mio. Bürobeschäftigten durch GPTs zu 24 % effektiv automatisiert würden, könnte künftig die Arbeit von 3,07 Mio. fehlenden Bürofachkräften durch Generative KI abgedeckt werden. (Dieses Potential enthält vermutlich kleinere Schnittmengen mit dem RPA-Kapazitätspotential.)
3. Mit Entbürokratisierung und Effizienzsteigerung in der Verwaltung gegen den Fachkräftemangel
Die Befolgung eines Gesetzes verursacht stets einen sogenannten „Erfüllungsaufwand“. Dieser umfasst den messbaren Zeitaufwand und die Kosten, die durch die Erfüllung bundesrechtlicher Vorschriften bei Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung entstehen. Eine Teilmenge des jährlichen Erfüllungsaufwandes sind die Bürokratiekosten. Sie entstehen durch die Verpflichtung, Daten oder sonstige Informationen für Behörden oder Dritte zu beschaffen, verfügbar zu halten oder zu übermitteln [15].
In den Unternehmen der Wirtschaft ist menschliche Arbeitskapazität zur Gesetzeserfüllung einerseits direkt gebunden und steht für andere Aufgaben nicht mehr zur Verfügung. Andererseits erfährt die Wirtschaft durch gesetzliche Regelungen indirekt zusätzliche Belastungen. Zur Bewältigung des wachsenden Aufwandes in den öffentlichen Verwaltungen werden zunehmend Fachkräfte gebunden, die der Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Zudem verzögern sich aufgrund des auch in der Verwaltung vorhandenen und wachsenden Personalmangels Aufgaben, die für die Wirtschaft bedeutsam sind, bspw. die Erteilung von Genehmigungen.
Kapazitätspotenzial:
Nach der letzten ausgewerteten Datenaktualisierung im Jahr 2018 betrugen die Bürokratiekosten aus Informationspflichten für die Wirtschaft jährlich etwa 50 Milliarden Euro [16]. Laut Normenkontrollrat betragen sie derzeit 65 Milliarden € je Jahr [17]. Durch diesen Aufwand ist die Arbeitskraft von etwa 1,1 Millionen Menschen gebunden. Im Folgenden wird dieses Potential jedoch nicht gesondert berücksichtigt, sondern dem von RPA und generativer KI zugeordnet.
Entbürokratisierung und Effizienzsteigerung sind trotzdem wichtige Handlungsfelder gegen den Fachkräftemangel. Der gesamte Erfüllungsaufwand eines Gesetzes kann ein Vielfaches der Bürokratiekosten umfassen und in erheblichem Maße menschliche Arbeitskapazität binden.
Trotz aller angekündigten Entbürokratisierungsinitiativen ist eine kurzfristige Verbesserung der Situation nicht zu erwarten. Ein erheblicher Teil der geltenden Gesetze stammt aus Legislativakten der EU. Seit 2015 sind 56 % der laufenden Belastungen für die Wirtschaft auf die Umsetzung von EU-Regelungen zurückzuführen. Die Folgekosten von EU-Richtlinien werden im Rahmen des nationalen Verfahrens zur Aufwandsermittlung abgeschätzt. Aber Erkenntnisse, die sich aus der Abschätzung ergeben, können kaum noch in die Gestaltung der Gesetze einfließen. Zwar gibt es mit dem sogenannten „EU ex ante Verfahren“ ein Instrument, um unverhältnismäßige Belastungen aufgrund von EU-Regelungen auf nationaler Ebene zu erkennen und zu vermeiden, jedoch kann seit der Einführung im Jahre 2016 noch nicht festgestellt werden, inwiefern das Verfahren eine Wirkung zeigt [17]. Eine konsequente Ausrichtung der EU-Gesetzgebung auf Effektivität und Effizienz scheint unter diesen Umständen nicht gesichert. Hinzu kommt, dass der Aufwand für sofort wirksam werdende EU-Verordnungen nicht berücksichtigt wird.
Fazit
Je nachdem, welche Szenarien der Zuwanderung und der Erschließung bislang ungenutzter Arbeitskraft eintreten, wird das Angebot an Erwerbspersonen in Deutschland bis zum Jahr 2035 gegenüber 2020 um 3 bis 7,2 Mio. Menschen zurückgehen. Dieser Fachkräftemangel bietet Unternehmen und Organisationen – aber auch der öffentlichen Verwaltung – jedoch gleichzeitig die Chance, ein wirksames Produktivitätsmanagement zu etablieren, dessen Notwendigkeit für die nachhaltige Existenzsicherung zunehmend von Management, Beschäftigten sowie Arbeitnehmervertretern akzeptiert wird. Durch 3 Lösungsansätze – Konsequentes Lean Management und Verschwendungsbeseitigung, Technisierung und Bürokratieabbau – könnte fehlende menschliche Arbeitskapazität in erheblichem Umfang abgedeckt werden.
Würde nur die Hälfte, der in diesem Beitrag grob geschätzten Potenziale erschlossen, entspräche dies der Arbeitskapazität von etwa 4 Mio. Menschen. Mit diesem Potenzial lässt sich nicht sofort jede freie Stelle besetzen, aber es ist unbestreitbar eine große Chance. Je nach Szenario könnten wir den Fachkräfterückgang damit vollständig oder zu erheblichen Teilen kompensieren.
Darüber hinaus existieren weitere Potentiale zur Reduzierung des Fachkräftemangels, die nicht eindeutig einem der drei Ansätze zuzuordnen sind. Sie zu erschließen ist eine bislang vernachlässigte gesellschaftliche Aufgabe. Im Zeitraum von 2011 bis 2021 betrug die jährliche Quote der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss zwischen 5,7 und 6,9 %. Das entspricht jährlich etwa 50 000 Personen. Etwa 70 % davon beschreiten den Weg in den sogenannten „Übergangsbereich“, der den Eintritt in eine abschlussbezogene Ausbildung erleichtern soll. In welchem Umfang dies gelingt ist ungewiss. Diejenigen, die aus dem Übergangsbereich heraus keine Ausbildungsmöglichkeit finden, gehören irgendwann zur Gruppe derer ohne abgeschlossene Berufsausbildung. In der Altersgruppe der Zwanzig- bis unter Fünfunddreißigjährigen waren dies 2021 nahezu 2,7 Mio. junge Menschen [18].
Sie sind nicht nur einem erhöhten Risiko für Arbeitslosigkeit bei geringerem Verdienst ausgesetzt, sondern auch ein vernachlässigtes Fachkräftepotenzial.
Quellenverzeichnis
[1] Fuchs J, Söhnlein D, Weber B (2021) Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Demografische Entwicklung lässt das Arbeitskräfteangebot stark schrumpfen. (IAB-Kurzbericht 25/2021), Nürnberg. https://doku.iab.de/kurzber/2021/kb2021-25.pdf
[2] Fachkräftemangel von Branche zu Branche und regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, KfW-ifo-Fachkräftebarometer Juni 2024. https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-KfW-ifo-Fachkr%C3%A4ftebarometer/KfW-ifo-Fachkraeftebarometer_2024-06.pdf
[3] Statistisches Bundesamt, Verdienste nach Branchen und Berufen, Durchschnittliche Bruttomonatsverdienste, Zeitreihe. https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-Branche-Berufe/Tabellen/liste-bruttomonatsverdienste.html#134694
[4] Womack JP, Jones DT, Roos D (1992) Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie des Massachusetts Institute of Technology. 7. Aufl., Frankfurt
[5] Ohno T (1993) Das Toyota Produktionssystem, Campus Verlag, Frankfurt, New York
[6] Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft (Hrsg), ILIN Institut für Lernen und Innovation in Netzwerken (Hrsg), Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI (Hrsg), Kinkel S, Beiner S, Schäfer A, Heimberger H, Jäger A (oD) Wertschöpfungspotenziale 4.0 – Bewertung der ungenutzten Wertschöpfungspotenziale der baden-württembergischen und deutschen Industrie in Zeiten der Digitalisierung der Wertschöpfung. https://www.infpro.org/studie-wertschoepfungspotentiale-4-0
[7] ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft. ifaa-Lexikon: Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK). https://www.arbeitswissenschaft.net/angebote-produkte/ifaa-lexikon/mensch-roboter-kollaboration-mrk
[8] Müller C (2023) World Robotics 2023 – Industrial Robots, IFR Statistical Department, VDMA Services GmbH, Frankfurt am Main
[9] Dauth W, Findeisen S, Südekum J, Wößner N (2017) German Robots – The Impact of Industrial Robots on Workers. IAB-Discussion Paper 30/2017. IAB - Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg. http://doku.iab.de/discussionpapers/2017/dp3017.pdf
[10] Deloitte (2017) The robots are ready. Are you? - Untapped advantage in your digital workforce. https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/tr/Documents/technology/deloitte-robots-are-ready.pdf
[11] Hammermann A, Stettes O (2023) Büroarbeit im Wandel - Analyse der Arbeitsbedingungen von Bürobeschäftigten, IW-Report 62/2023. https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Report/PDF/2023/IW-Report_2023-B%C3%BCroarbeit-im-Wandel.pdf
[12] Statistisches Bundesamt Destatis. Eckzahlen zum Arbeitsmarkt, Deutschland für die Jahre 2013, 2022 und 2023. Stand 25. März 2024. https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/eckwerttabelle.html
[13] von Richthofen G, Köhne S, Send H (2023) KI in der Wissensarbeit. Handlungsfelder und Ansätze für eine beschäftigtenorientierte Gestaltung. Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft, Berlin. https://doi.org/10.5281/zenodo.7541307
[14] Gmyrek P, Berg J, Bescond D (2023) Generative AI and jobs: A global analysis of potential effects on job quantity and quality. ILO Working Paper 96. International Labour Organization, Genf. https://doi.org/10.54394/FHEM8239
[15] Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates, §2. https://www.gesetze-im-internet.de/nkrg/__2.html
[16] Statistisches Bundesamt Destatis (Hrsg) (2022) Projektbericht zur Datenaktualisierung des Belastungsbarometers, Wiesbaden 2022. https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Buerokratiekosten/Publikationen/Downloads-Buerokratiekosten/belastungsbarometer.pdf?__blob=publicationFile
[17] Nationaler Normenkontrollrat Bundesministerium der Justiz (Hrsg) (202) Jahresbericht 2023. Weniger, einfacher, digitaler. Bürokratie abbauen. Deutschland zukunftsfähig machen. https://www.normenkontrollrat.bund.de/Webs/NKR/DE/veroeffentlichungen/jahresberichte/jahresberichte_node.html
[18] Klemm K (2023) Jugendliche ohne Hauptschulabschluss. Demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung. Bertelsmann Stiftung (Hrsg), Gütersloh. https://doi.org/10.11586/2023005
Ihr Ansprechpartner
Dr.-Ing.
Frank Lennings
Leitung Fachbereich Unternehmensexzellenz
Telefon: +49 211 542263-19