Neue Belastungsarten in der Arbeitswelt 4.0
Inhalt
Die Digitalisierung verändert die Art und Weise, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Die Einführung cyber-physischer Systeme (CPS) in die Betriebe kann Arbeit erleichtern und Personen bei der Arbeit unterstützen. Ebenso können die neuen Systeme neue Belastungsfaktoren mit sich bringen, gleichzeitig aber auch Ressourcen zur Bewältigung einer bereits bestehenden Belastung zur Verfügung stellen. Das Belastungs-Beanspruchung-Konzept behält dabei nach wie vor seine Gültigkeit, die Art der Belastung kann sich allerdings verändern. Die Chancen der Einführung cyber-physischer Systeme bestehen darin, Arbeit 4.0 so zu gestalten, dass die Beschäftigten durch die Systeme unterstützt und ggf. entlastet werden, ihre Leistungsfähigkeit erhalten bleibt und die Arbeit produktiver wird. Das Risiko besteht darin, dass neuartige Belastungsfaktoren (und auch Ressourcen) nicht erkannt oder nicht beachtet werden und es durch die Arbeit für die Beschäftigten zu möglicherweise die Gesundheit beeinträchtigenden Beanspruchungsfolgen kommt.
Begriffe
Jede Arbeit ist mit einer Belastung verbunden. Diese ergibt sich aus den Arbeitsbedingungen denen Beschäftigte ausgesetzt sind. Von der Belastung ist die Beanspruchung als Folgereaktion zu unterscheiden. Belastung und Beanspruchung sind neutrale Konzepte.
Belastung
Hierunter werden alle Einwirkungen auf den Menschen verstanden, die sich aus der Arbeit (durch z. B. Arbeitsmittel, -aufgabe, -umgebung) ergeben und von außen auf den Menschen einwirken (DIN EN ISO 10075, DIN EN ISO 6385). Belastung ist objektiv bestimmbar und kann sich nach Art, Dauer, Stärke und Verlauf unterscheiden. Es lässt sich physische (körperliche) Belastung, wie z. B. das Gewicht einer Last und psychische (mentale, geistige) Belastung, wie beispielsweise Aufgabenschwierigkeit, Lärm unterscheiden. DIN EN ISO 10075-1 definiert psychische Belastung als die Gesamtheit der von außen auf den Menschen zukommenden Faktoren, die diesen psychisch beeinflussen. Sie ergibt sich z. B. aus
- der Arbeitsaufgabe (Art und Umfang der Tätigkeit),
- der Arbeitsumgebung (z. B. Lärm),
- der Arbeitsorganisation (z. B. Arbeitszeit, Arbeitsabläufe),
- den sozialen Komponenten (z. B. Führungsstil, Betriebsklima) und
- den Arbeitsmitteln (z. B. Software).
Beanspruchung
Unter Beanspruchung werden die physischen und/oder psychischen Reaktionen des Menschen auf die von außen einwirkende Belastung verstanden. Diese Reaktionen sind je nach den individuellen Leistungsvoraussetzungen des Menschen unterschiedlich und können zu unterschiedlichen Beanspruchungsfolgen führen. Positive Folgen sind zu erwarten, wenn die Höhe der Belastung weitgehend den Leistungsvoraussetzungen entspricht. Bei starken Diskrepanzen (Belastung zu hoch oder zu gering) sind eher negative Folgen zu erwarten (vgl. GDA, 2018).
Neue Belastungsfaktoren durch CPS
Um bestimmen zu können, ob und welche neuartigen oder zusätzlichen Belastungsfaktoren durch die Einführung von CPS in den Betrieben auf die Beschäftigten zukommen, ist zunächst darzustellen, was sich durch die Technologien überhaupt verän-
dern kann. Dies sind im Wesentlichen:
- eine höhere Verfügbarkeit von Daten (z. B. aus der Arbeitsumgebung, Gesundheitsdaten, Materialfluss, Wartungsintervalle), die Vernetzung von Gegenständen, Prozessen, und Personen sowie deren
- autonome und intelligente Steuerung durch Software in Echtzeit, und
- die Darstellung von Gegenständen und Prozessen als virtuelles Abbild der Realität (Virtualisierung; vgl. Frost et al. 2016, S. 640).
Dabei lässt sich unterscheiden, welche Technologien bzw. Assistenzsysteme im Betrieb eingesetzt werden. Technische Assistenz-
systeme und CPS werden durch Software gesteuert. Eine mögliche Klassifizierung ist eine Unterteilung in:
- kognitiv unterstützende Assistenzsysteme (z. B. Smartphone, Tablets, Smartglasses, Wearables),
- physisch unterstützende Assistenzsysteme (z. B. Exoskelette, Smart Building, intelligente Assistenzsysteme in Arbeitskleidung) und
- Service- und Assistenzroboter (z. B. Inspektionsroboter, humanoide Roboter)
Dabei besitzt jedes technische Assistenzsystem eine Unterstützungsfunktion und liefert gleichzeitig Daten anhand von integrierten Sensoren (Datengenerierungsfunktion; vgl. Offensive Mittelstand, 2018a). Je nach Einsatz der Technologie bzw. des Assistenzsystems kann sich die daraus entstehende Belastung und Beanspruchung unterscheiden.
Neue und zusätzliche Ressourcen durch CPS
Die neuen Technologien bringen neben neuen Herausforderungen auch zahlreiche neue Chancen und Erleichterungen der Arbeit mit sich. So können Assistenzsysteme zum Beispiel psychische Beanspruchung reduzieren, indem diese Informationen je nach Aufgabe, oder auch je nach Kompetenzen einer Arbeitsperson gezielt bereitstellen. Sie können Fehler und Störungen erfassen und diese (anonymisiert) zurückmelden. Ebenso können Handlungen während und aus dem Arbeitsprozess erfasst werden und für die rechtzeitige Analyse von Belastung und die frühzeitige, präventive Planung von Gesundheitsmaßnahmen oder zur Gestaltung von Belastung verwendet werden. Bezogen auf die physische Belastung lässt sich festhalten, dass die Einführung von CPS überwiegend zu einer körperlichen Entlastung beitragen kann. So können die neuen Technologien z. B. auch ermöglichen, dass bestimmte Beschäftigtengruppen (wie zum Beispiel Ältere, körperlich Eingeschränkte) durch die Nutzung von z. B. Exoskeletten länger im Arbeitsprozess verbleiben können oder der Genesungsprozess erkrankter Beschäftigter unterstützt wird (Offensive Mittelstand, 2018d; Terstegen & Sandrock, 2018). Je nach Assistenzsystem können folgende Entlastungspotenziale genutzt werden, z. B.:
- Übertragung von ganzen Tätigkeiten oder Tätigkeitsanteilen (z. B. Kombination aus Präzision und Anpressdruck)
- Verringerung oder Vermeidung von monotonen oder Tätigkeitsanteilen mit ungünstiger Körperhaltung (z. B.: Beugen, Bücken)
- Unterstützung bei der Tätigkeitsausführung
- Befähigung zu Tätigkeiten, die ohne physische Unterstützung nicht möglich gewesen wären
- Verbesserung der Arbeitsergonomie
- Möglichkeiten simultaner virtueller Erprobung des Einsatzes neuer Technologien ohne gesundheitliche Risiken (Virtual Reality)
- Ggf. komplette Vermeidung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei körperlich belastenden Tätigkeiten durch präventiven Einsatz
Präventive Maßnahmen zur Gestaltung von Belastung: Arbeitssituation
Bei der Einführung von CPS in den Betrieb können folgende Aspekte zur Gestaltung von physischer oder psychischer Belastung
berücksichtigt werden und ggf. dazu beitragen, mögliche negative Beanspruchungsfolgen bereits vor der Entstehung, präventiv zu vermeiden (vgl. Offensive Mittelstand, 2018a, b, c):
- Auswahl der Unterstützungssysteme an den betrieblichen Aufgaben orientieren.
- Prüfung, welche Assistenzsysteme wirkungsvoll und effektiv für den betrieblichen Ablauf sind.
- Mit dem Einsatz von vertrauten Systemen (z. B. Smartphone) beginnen.
- Gefährdungsbeurteilung durchführen, wenn ein neues Assistenzsystem eingeführt wird
- Beschäftigte bei der Einführung der neuen Systeme einbeziehen, um die Akzeptanz zur Nutzung der Systeme zu erhöhen bzw. herzustellen.
- Bei der Anschaffung auf Nutzerfreundlichkeit und Ergonomie achten. (Assistenzsysteme sollten nicht ablenken oder falsche Informationen liefern).
- Unterweisung in Echtzeit.
- Klären bzw. festlegen, welche Daten die neuen Systeme erfassen und wo diese gespeichert werden.
- Umgang mit personenbezogenen Daten sollte geregelt und ggf. vereinbart sein.
- Festlegen, was im Gefahrenfall (z. B. Ausfall von Assistenzsystemen geschieht).
- Zuverlässigkeit der Funktionsfähigkeit der Software sicherstellen.
- Agiles und aktivierendes Führungsverhalten.
- Einführung bzw. Anwendung einer digitalen Personaleinsatzplanung orientiert an den Bedürfnissen und Kompetenzen/Qualifikationen.
Präventive Maßnahmen zur Gestaltung von Belastung: Individuelle menschliche Voraussetzungen
Vermittlung von Kenntnissen über:
- Wirkmechanismen von CPS
- Kriterien nach denen Software die Systeme steuert
- Datenschutz, Datensicherheit und Datenqualität
Vermittlung oder Erweiterung von Fähigkeiten
- zur Bedienung technischer Assistenzsysteme (inkl. Interventionsmöglichkeiten)
- zum (kritischen) Umgang mit Daten (inkl. den eigenen personenbezogenen Daten)
- zum Umgang mit virtueller Identität und Selbstbild (Ich-Identität)
- digitaler personaler Resilienz
Sprechen Sie uns an!
Dr. phil.
Martina C. Frost
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Telefon: +49 211 542263-43
Dr. rer. pol.
Stephan Sandrock
Leitung Fachbereich Arbeits- und Leistungsfähigkeit
Telefon: +49 211 542263-33
Literatur
DIN EN ISO 6385:2016-12: Grundsätze der Ergonomie für die Gestaltung von Arbeitssystemen (ISO/DIS 6385:2016); Deutsche Fassung EN ISO 6385:2016
DIN EN ISO 10075-1:2018-01: Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung — Teil 1: Allgemeine Aspekte und Konzepte und Begriffe (ISO 10075-1:2017); Deutsche Fassung EN ISO 10075-1:2018
Frost M, Sandrock S, Schüth NJ (2016) Potenziale der digitalen Arbeitswelt für Führung und Qualifizierung. Erfahrungsberichte und Empfehlungen von 4.0 Experten. Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb (111):639–644
GDA (2018). Belastungs- Beanspruchungsmodell. Abrufbar unter: www.gda-psyche.de/DE/Zahlen-Daten-Fakten/Entstehungsmodelle/Belastungs-und-Beanspruchungsmodell/inhalt.html. Zugegriffen: 25.September 2018
Offensive Mittelstand (2018a). Verbundprojekt Prävention 4.0. Umsetzungshilfe 3.2.1 Technische Assistenzsysteme — allgemein. Heidelberg.
Offensive Mittelstand (2018b). Umsetzungshilfe 2.2.1 Gefährdungsbeurteilung 4.0. Heidelberg.
Offensive Mittelstand (2018c) Verbundprojekt Prävention 4.0. Umsetzungshilfe 4.1.2 Belastungs- und Beanspruchungskonzept 4.0.
Heidelberg.
Offensive Mittelstand (2018d) Verbundprojekt Prävention 4.0. Umsetzungshilfe 3.2.4 Exoskelette (physisch unterstützende Assistenzsysteme). Heidelberg.
Weber MA (2017) Mensch-Roboter-Kollaboration. Zahlen | Daten | Fakten. Institut für angewandte Arbeitswissenschaft. www.arbeits-
wissenschaft.net/ZDF_MRK. Zugegriffen: 7. November 2018
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